9.12.2025
lic. phil. Engelbert Reul
Literatur im bürgerlichen Zeitalter - zwischen Biedermeier und Naturalismus

Das 19. Jahrhundert ist von Industrialisierung, sozialen Spannungen und politischen Revolutionen geprägt, die sich deutlich in der Literatur widerspiegeln. Das „Kommunistische Manifest“ von Karl Marx (1818–1883) und Friedrich Engels (1820–1895) eröffnet mit dem Satz „Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus“ eine neue Phase der Gesellschaftskritik. Die Gesellschaft spaltet sich in Bourgeoisie und Proletariat, und viele Arbeiter werden zu Anhängseln der Maschinen. Diese Spannungen entladen sich in den Revolutionen von 1848: In Frankreich wird Louis Philippe gestürzt, in München, Berlin und Wien kommt es zu Barrikadenkämpfen, Metternich flieht nach London, und die Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche scheitert, als Friedrich Wilhelm IV. die Kaiserkrone ablehnt. Gleichzeitig wird das Bürgertum zur prägenden Kraft der Zeit. Stadttheater und Opernhäuser entstehen, Kunst wird bürgerlich, und bürgerliche Mäzene fördern Literatur und Musik. In der Schweiz führt der Sonderbundskrieg von 1847 zum Übergang vom Staatenbund zum Bundesstaat und prägt Kultur und Politik nachhaltig.
Die Literatur dieser Zeit steht im Zeichen des poetischen Realismus. Jeremias Gotthelf (1797–1854), eigentlich Albert Bitzius, wirkt als reformierter Pfarrer im Emmental und kennt Armut und Aberglauben aus eigener Erfahrung. In Romanen wie „Uli der Knecht“ und „Uli der Pächter“ verbindet er Alltagsrealität mit moralischer Lehre. Seine Novelle „Die schwarze Spinne“ (1842) schildert in eindringlichen Bildern, wie eine Gemeinschaft durch Hochmut und Gottlosigkeit ins Verderben gerät. Thomas Mann (1875–1955) nannte diese Erzählung ein erschütterndes Meisterwerk und lobte ihre dunkle Bildkraft und moralische Strenge. Gottfried Keller (1819–1890) wird in Zürich geboren, verliert früh seinen Vater und versucht sich zunächst als Maler. Nach Aufenthalten in Heidelberg und Berlin wird er Staatsschreiber des Kantons Zürich. In „Der grüne Heinrich“ schildert er den Weg eines scheiternden Künstlers, in „Die Leute von Seldwyla“ und „Züricher Novellen“ zeigt er ein kritisches Bild des Bürgertums. Besonders „Romeo und Julia auf dem Dorfe“ macht den Zerfall bürgerlicher Ehrvorstellungen sichtbar, während „Das Fähnlein der sieben Aufrechten“ republikanische Ideale betont. Conrad Ferdinand Meyer (1825–1898) stammt aus einer Zürcher Patrizierfamilie, wird durch den frühen Freitod seiner Mutter geprägt und leidet unter seelischen Krisen. Er wird vor allem durch seine historischen Romane und Novellen bekannt, etwa „Jürg Jenatsch“ über die Bündner Wirren im Dreissigjährigen Krieg und „Gustav Adolfs Page“. Neben der Prosa ist seine Lyrik besonders bedeutend, vor allem das Gedicht „Der römische Brunnen“ (1882), das für seine formale Strenge und Bildkraft bekannt ist. Im europäischen Raum schildern Gustave Flaubert (1821–1880) in „Madame Bovary“ und Leo Tolstoi (1828–1910) in „Anna Karenina“ die konfliktreiche Spannung zwischen persönlichem Glück und bürgerlicher Moral. Die Oper „Carmen“ von Georges Bizet (1838–1875) macht diese Gegensätze auch musikalisch sichtbar. Adalbert Stifter (1805–1868) entwirft in „Der Nachsommer“ und „Witiko“ das Ideal einer ruhigen, moralisch geordneten Welt. Mit Friedrich Nietzsche (1844–1900) und seinem Werk „Menschliches, Allzumenschliches“ (1878) beginnt eine radikale Kritik an traditionellen Moral- und Wahrheitsvorstellungen. So zeigt die Literatur des 19. Jahrhunderts, wie eng politische Umbrüche, gesellschaftliche Entwicklungen und die Lebenswege der Autoren miteinander verbunden sind und wie Literatur zum Spiegel ihrer Zeit wird. Unser herzlicher Dank gilt Herrn Engelbert Reul für sein hervorragendes Referat, das gleichermassen informativ, lebendig und anregend war.
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