Der Weiseste der Weisen – ein Esel?

In seiner 9. Sinfonie von 1945 zitiert Schostakowitsch an zahlreichen Stellen das Lied «Lob des hohen Verstandes» von Gustav Mahler – darin hat er eine sehr spezielle Widmung an Stalin versteckt.

Jakob Knaus
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Welche Neunte ist wohl die richtige? Die auf dem Klavier? Oder die in der Hand von Dmitri Schostakowitsch? (Bild: Camera Press / Keystone)

Welche Neunte ist wohl die richtige? Die auf dem Klavier? Oder die in der Hand von Dmitri Schostakowitsch? (Bild: Camera Press / Keystone)

Als der Zweite Weltkrieg zu Ende und Stalin der grosse Sieger war, durfte er erwarten, dass ihm eine grosse Siegessinfonie gewidmet würde. Die Siebente von Dmitri Schostakowitsch hatte 1942 die Leiden der Leningrader unter der jahrelangen Belagerung durch die Deutschen und die heldenhafte Verteidigung thematisiert; die Achte von 1943 war dann finster, lärmig, ja gewalttätig gewesen und bar jedes Optimismus. Die Neunte sollte nun den Sieger feiern und ihn dem Volk als den grössten der Helden hinstellen. Eine Reihe von Ehrentiteln hatte man ihm schon verliehen, «Väterchen Stalin», «der Tapferste der Tapferen», «der grosse Held der Revolution», «der weise Lehrer aller Wissenschaften», «der weise Führer und strahlende Held» und als Summe all dieser Verehrung: «der Weiseste der Weisen».

«Ich versuchte zu lügen»

Schostakowitsch war sich bewusst, dass er mit dieser Sinfonie gewaltige Erwartungen zu erfüllen hatte: «Auch die Ziffer würde ihm gefallen – die Neunte Symphonie! Stalin hörte sich immer genau an, was Experten und Spezialisten einer bestimmten Branche zu berichten wussten. Und in diesem Fall versicherten ihm die Experten, ich verstünde meine Sache. Daraus schloss Stalin, die Symphonie zu seinen Ehren werde von höchster Qualität sein. Man werde stolz sagen können: Hier ist sie, unsere vaterländische neunte Symphonie. Ich muss bekennen: Ich gab dem Führer und Lehrer Anlass zu solchen Träumen, denn ich kündigte an, eine Apotheose schreiben zu wollen. Ich versuchte zu lügen, und das wandte sich gegen mich», so erinnerte sich Schostakowitsch im Wortlaut der «Zeugenaussage», der von Solomon Wolkow aufgezeichneten «Memoiren des Dmitri Schostakowitsch».

Mitte Januar 1945 begann er, den ersten Satz, ein «Allegro non troppo» im 4/4-Takt, zu komponieren, brach die Arbeit daran aber bei Takt 321 ab. Anscheinend geschah dies im Mai des Jahres, wie Isaak Glikman notierte. Das sechseinhalb Minuten dauernde Fragment klingt massiv, düster und in der ersten Hälfte stur auf einem Rhythmusmodell beharrend. Am 25. September 1945 habe Schostakowitsch dann aber im Leningrader Komponistenverband eine völlig andere «neunte Sinfonie» auf dem Klavier vorgestellt – Glikman war auch hier Zeuge. Das Fragment wurde von Gennadi Roschdestwenski mit dem Russischen Akademischen Sinfonieorchester 2006 in Moskau aufgeführt, zu Schostakowitschs hundertstem Geburtstag.

Die Uraufführung der neuen, jetzt fünfsätzigen Sinfonie fand am 3. November 1945 in Leningrad statt, der Dirigent war Jewgeni Mrawinski. Die Reaktion war fast durchwegs: Enttäuschung. Der DDR-Musikwissenschafter Heinz Alfred Brockhaus gab in den 1960er Jahren in seiner kleinen Schostakowitsch-Biografie, die bei Reclam Leipzig herauskam, eine knappe Erklärung zu dem Werk ab: «Der Sinn der Neunten Sinfonie ist, dass der allzu sorglosen Freude der Menschen nach dem Ende des Krieges eine eindringliche Mahnung entgegengestellt wird. Die dröhnenden Posaunen- und Tubaklänge im vierten Satz erinnern an die Tragödie der Achten Sinfonie. Wenig später verwandte der Komponist sie abermals im ‹Lied von den Wäldern›, wo er die ‹Erinnerung an Vergangenes› lebendig werden lässt. Die Erinnerung an Vergangenes wird auch hier in der Neunten Sinfonie dem heiteren sorglosen Spiel entgegengestellt, und so muss man das Werk als eine Mahnung des Komponisten verstehen, der seine Mitmenschen zur tätigen Erhaltung des Friedens, des so teuer erkauften Glückes aufrufen will.»

Das Publikum habe seinerzeit freilich etwas anderes erwartet. «Einige Kritiker vermuteten», so Brockhaus weiter, «er sei zu den kompositorischen Prinzipien zurückgekehrt, die er bis 1937 bevorzugt hatte. Dieser Eindruck ist beim ersten Hören verständlich, denn schon der erste Satz ist ein ausgesprochen heiteres, witzig burleskes Stück Musik, der klassischen Sonatenform angepasst – mit der ‹Klassischen Sinfonie› Sergei Prokofjews vergleichbar. Doch dieser Vergleich gilt nur für begrenzte Teile der Sinfonie, in keinem Falle für das ganze Werk. Das besonders Auffallende ist, dass dem witzig burlesken ersten Satz ein tief nachdenklicher lyrischer zweiter folgt, der an manche andere Prägung der Naturpoesie im Schaffen Schostakowitschs erinnert.» Der linientreue Musikfunktionär Marian Kowal erboste sich dagegen: «Der alte Haydn und ein waschechter Sergeant der US-Army, wenig überzeugend auf Charlie Chaplin getrimmt, jagten im Galopp mit allen Gebärden und Grimassen durch den ersten Satz dieser Symphonie.»

1980 schreibt der polnische Musikpublizist und Komponist Krzysztof Meyer: «Ungeachtet der Meinungsunterschiede enttäuschte die 9. Sinfonie allgemein die Musikwissenschaftler, die sich lange nicht mit ihrer klassizistischen Musiksprache und der klassischen Form abfinden konnten. Die Dirigenten hingegen griffen von Anfang an gern nach dieser Partitur und brachten diesen musikalischen Spass oft zur Aufführung, der sich dank seiner originellen Melodik, der abwechslungsreichen Rhythmik und der kunstvollen polyphonen Faktur sowie der frappierenden Zusammensetzung der Instrumente als ein echtes Kunstwerk auswies. Die Sinfonie wurde schnell zu einem der populärsten Werke Schostakowitschs. Gegenwärtig wird sie weitaus häufiger als die beiden vorangegangenen Sinfonien gespielt.»

Hören wir genauer hin!

Immer wieder wird an diesem ersten Satz kurz herumgerätselt, aber niemand, so weit ich die Fachliteratur überblicke, hat bisher in diesen «witzig burlesken» Satz genauer hineingehört. Leonid Gakkel hat Ironie herausgehört und sich gefragt, ob denn die Haupttonart Es-Dur nicht auf das «Invasionsthema» der Siebenten anspiele, das in derselben Tonart steht. «Zweifellos gab es diese Anspielung, und dadurch unterstrich er die Nähe des Bösen zu den ‹sanften Themen› der neuen Sinfonie. Oder könnte es auch Ironie sein, in der ursprünglichen Bedeutung des griechischen Wortes, als eine ‹geheuchelte Unkenntnis› der Siebten? Dann wäre die Ironie umso bitterer.»

Hören wir uns diesen ersten Satz der Sinfonie einmal an – er dauert kaum mehr als 5 Minuten. Das Auffällige ist zum einen die brave Wiederholung der Exposition mit erstem und zweitem Thema. Dies suggeriert «klassische Sinfonie» und Orientierung an der Tradition. Wer aber nicht auf die Form achtet, sondern primär auf die Musik, dem fällt die Posaune auf mit den häufigen Quartsprüngen nach oben – im Ganzen sind es fünfzehn, sechsmal allein in den Takten 167 bis 195. Dann sind es die Kuckucksrufe, die mindestens zwölfmal zu hören sind, und das Vogelgezwitscher, das von der Piccoloflöte mehrmals eingeworfen wird, immer wieder leicht verändert. Man kann es formal als zweites Thema bezeichnen. Auch dieses trifft man zehnmal an. Was sollen wir davon halten? Der Quartsprung aufwärts verweist auf die Gattung Volkslied, die im deutschen Sprachbereich sehr häufig mit einem Quartsprung aufwärts beginnt, man denke nur an «Ade zur guten Nacht», «Die Gedanken sind frei», «Kein schöner Land in dieser Zeit» oder auch «O Tannenbaum».

Hört man das Vogelgezwitscher genauer an und vergleicht es mit dem originalen Ruf einer Nachtigall, so sind wir bereits auf der richtigen Spur. Berücksichtigt man dazu noch den Kuckucksruf, so sind wir bei Kuckuck und Nachtigall angelangt – und bei der Frage, wer denn schöner singe. Der 16 Jahre alte Schostakowitsch hatte 1922 unter der Opusnummer 4 jene Fabel von Krylow vertont, wo der Gesang der Nachtigall mit dem des Hahns verglichen wird. Noch viel näher aber liegt als Bezugspunkt ein Lied aus «Des Knaben Wunderhorn» mit seinem Wettbewerb zwischen Kuckuck und Nachtigall.

Lob des hohen Verstandes

Gustav Mahler hat es vertont – unter dem Titel «Lob des hohen Verstandes». Es beginnt mit dem besagten Quartsprung nach oben, nicht nur in seinen ersten beiden Takten, sondern auch beim Sängereinsatz in den Takten 9 und 10 auf «Einstmal in einem tiefen Tal». Und wer ist hier der Richter, wer entscheidet über die Qualität des Gesangs? «Der Kuckuck sprach: ‹So dir's gefällt, hab ich den Richter wählt, und tät gleich den Esel ernennen!» Und weshalb den Esel? «Weil er hat zwei Ohren gross, Ohren gross, Ohren gross, so kann er hören desto bos, und, was recht ist, kennen!» Auf diesen Satzschluss hin hämmert die Pauke zweimal wiederum die Quarte aufwärts! Daraus darf man folgern, dass die Quarte aufwärts mit dem Entscheid des Esels gleichgesetzt wird. In Schostakowitschs Sinfonie wird der Quartsprung aufwärts in der Phase der Entscheidung, nämlich gegen Ende der Durchführung, in den Takten 166 bis 194 achtmal wiederholt!

In Mahlers Lied reagiert der Esel auf den Gesang der Nachtigall ganz ungehalten: «Du machst mir's kraus. I-ja! Ich kann's in Kopf nicht bringen.» Und weiter heisst es: «Der Kuckuck drauf fing an geschwind sein Sang durch Terz und Quart und Quint.» Die Entsprechung findet sich bei Schostakowitsch am Beginn der Durchführung (Takte 92 ff.), wo die Bratschen nur Terzen, die Celli nur Quarten und die Bässe nur Quinten spielen, um nicht zu sagen: «grapschen». Wenn wir die beiden Schlüsse vergleichen, so hören wir beide Male nur noch den Kuckuck und im Lied das «I-ja!» mit einem Oktavsprung abwärts, in der Sinfonie den Quartsprung aufwärts. Und endlich entdecken wir noch, dass die erste Liedzeile «Einstmal in einem tiefen Tal» schon im Sinfoniebeginn, in den Takten 3 bis 5, zitiert ist.

Der «Weiseste der Weisen» ist also eindeutig der Esel. Und warum entscheidet er sich für den Kuckuck als Sieger? Weil dieser nur zwei Töne singt und ihn, den Richter, nicht derart verwirrt wie die Nachtigall, die so variantenreich singt und trillert, dass er konfus wird. Noch wichtiger aber ist es, dass der Kuckuck mit seinen zwei Tönen beim einfachen Volk gut verstanden werden kann, während die Nachtigall zu kompliziert singt – sie ist demzufolge eine Formalistin, zu intellektuell, also «volksfeindlich».

Ganz unbemerkt von der Zensur hat Schostakowitsch demnach offenkundig seine ganz eigene «Apotheose» auf den grossen Sieger Stalin komponiert und sie mutig vor aller Ohren aufführen lassen, lange bevor er seinen ebenso mutigen «Antiformalistischen Rajok» für die Schublade schrieb, in dem er die Diskussion über Probleme der Kunst, die Stalin mit seinen Paladinen führte, schonungslos parodiert und karikiert.

Jakob Knaus ist Musikwissenschafter und ehemaliger Redaktor von Radio SRF 2 Kultur.